Ein Gärtner gläserner Oasen
Mit der Ausstellung "Tektite" demonstriert Wolfgang Nickel aus der Rhön seine Einzigartigkeit
Schwer zu sagen, was an diesem Mann stärker beeindruckt. Ist es seine Kreativität, die Einzigartigkeit mit einer so immensen Wirkungsmacht verbindet, dass sich viele Menschen seinen Kompositionen aus Glas einfach nicht entziehen können? Oder ist es seine ungeheure Produktivität, mit der Wolfgang Nickel wie ein Gärtner über das ganze Land verteilt gläserne Oasen der Innerlichkeit und der Schönheit zum Gedeihen bringt?
Klar ist nur: Dieser Wolfgang Nickel, der in Georgenzell am Fuß der Rhön lebt und arbeitet, ist einer der spannendsten Künstler Deutschlands. Heute Abend wird in der CCS-Galerie Suhl seine Ausstellung "Tektite" eröffnet. Für alle, die sich auf Farben, auf Formen, auf Unerwartetes einlassen können oder wollen, ist diese Schau ein visuelles wie spirituelles Gesamterlebnis.
Auf Effekthascherei kann Wolfgang Nickel so gut verzichten wie auf Koketterie. Er weiß um den Wert des eigenen Schaffens: "Mir geht es darum, aus der Masse herausstechen." Als es um die Herausforderung geht, die der äußerst anspruchsvolle Werkstoff Glas darstellt, sagt er: "Es gibt schon eine gewisse Ausschussquote. Ein Drittel ist für die Tonne. Aber wenn es so einfach wäre, könnte es ja auch jeder."
In Kirchen und Krankenhäusern
Nickel arbeitet nicht allein für die Galerien. Im Gegenteil: So präsent im öffentlichen Raum wie er ist sonst kaum einer. Und, ob Zufall oder nicht, oft dienen die Gebäude, die Räume, in denen er Arbeiten hinterlassen hat, einer besonderen Funktion, führen Menschen an die Grenzen ihrer Existenz oder an die Schwelle zu Neuem.
In seiner umfangreichen Referenzliste taucht eine Justizvollzugsanstalt auf (in Gräfentonna). Eine Kaserne (Bad Salzungen). Dazu ein Standesamt (Schmalkalden). Besonders oft aber hat er in Kirchen und Krankenhäusern mit der Gestaltung von Fenstern oder Installationen den Räumen Charakter und Seele geben. Räumen also, in denen Menschen gelegentlich ihrem Inneren Ich ins Angesicht blicken - oder sich dazu gezwungen sehen.
Großformatige Fotos in der Suhler Ausstellung lassen die Wirkung auf die originalen Räume bereits erahnen. Eines der jüngsten Beispiele ist die Severikirche Erfurt. Die gelb-roten Farbtöne der Scheiben tauchen das Mittelalter in einen warmen, lebendigen Farbton. Anderswo spricht Blau von einer gedanklichen Annäherung an die Unendlichkeit.
Doch die Suhler Ausstellung bietet auch Werke, die extra für sie entstanden sind. Der Ausstellungstitel "Tektite" verweist auf natürliche Glas-Brocken, die entstehen, wenn Meteoriten auf die Erdoberfläche einschlagen und dabei Siliziumdioxid - nichts anderes also als gewöhnlichen Sand - zum Schmelzen bringen.
Fruchtbar und verheißungsvoll
"Zufallsprodukte" sind solche Brocken, sagt Nickel. Ebenso wie die Werke, die er nun zeigt. Ziel war, "auszuloten, ob es etwas gibt, das noch nicht ausgelotet ist". "Jeder Glaskünstler hat so seine eigenen Kochkünste", erklärt er. Und berichtet von Versuchsreihen, "fast wie ein Physiker", in denen Glaskünstler wie er etwa mit Brenn-Temperatur und Abkühlzeit experimentieren.
Bei seinen Tektiten hat Nickel zwischen zwei Scheiben vor dem Brennen allerlei Materialien angeordnet, wie er erzählt, etwa verschiedene Metallpulver. Ein winziger Wassertropfen unter die Scheiben bewirkt beim Brennen, dass sich das Glas einem Gebirge gleich in die Höhe reckt. Allzu genau aber will sich dieser Alchimist nicht die Geheimnisse seiner Probierstube entlocken lassen.
Eigentlich hat er Malerei studiert an der berühmtesten ostdeutschen Kunsthochschule, der Burg Giebichenstein in Halle. Doch wie der Zufall so will, es gab auch eine Glasklasse, dank der er die künftige Gattin und später auch die künftige Berufung fand. Mit der Glas-Tradition Thüringens hatte das nichts zu tun, sagt er. Dass er nach dem Studium zurück in seine Heimat kam, war weder ganz große Heimatliebe noch postulierte Gegenbewegung zur Stadt: Es gab einfach gute Arbeitsbedingungen.
Nein, auch im Glasland Thüringen ist Wolfgang Nickel kein Hüter und Bewahrer. Er ist ein Pionier. Und das neue Land, in das er vorstößt, es wirkt fruchtbar, es wirkt so aufregend wie verheißungsvoll.
25.8.2012
Documentabeitrag (13) 2012 1.8.12
Wolfgang Nickel - in das Documenta-
Projekt von Lori Waxman aufgenommen!
Lori Waxman (36, geboren in Montreal) ist freie Kritikerin unter anderem für die "Chicago Tribune" und "Art Forum". Sie lehrt am School of the Art Institute in Chicago.
Sie hat in Montreal, Chicago, Lancaster und New York Kunstgeschichte studiert und an der New York University promoviert. Waxman hat auch Essays, Katalogbeiträge und Bücher veröffentlicht.
60 WRD/MIN ART CRITIC // KASSEL // 143
Wolfgang Nickel
Stained glass windows have decorated churches
since medieval times, telling stories and setting
moods through the joining together of different
pieces of colored glass. Wolfgang Nickel
practices a relatively new technique wherein
paint is applied to layers of glass and then fused
to it in a special kiln. The effect entirely reinvents
the tradition, creating a singular element in which
ethereal designs seem to have grown organically.
Nickel goes even further, borrowing from church
blueprints in the patterns embedded in “Ways of
Contemplation” and “Paradise is Everywhere,” as
if a fusion had occurred not just in the glass but
between the glass and its architectural context.
Fragmented and layered, the motifs have none of
the weight and permanence expected of the
oldest of institutional structures. They are burned
and faded, they are fragile, they are ruins. A
church would have to be extraordinary brave and
honest to hang these windows on its walls.
—Lori Waxman 8/1/12 2:02 PM
Seit dem Mittelalter schmücken Buntglasfenster die
Kirchen, erzählen Geschichten und schaffen
Stimmungen, indem unterschiedliche Stücke farbigen
Glases in Beziehung gesetzt werden. Wolfgang Nickel
arbeitet mit einer relativ neuen Technik, wobei Farbe
auf Schichten von Glas aufgebracht wird und dann in
speziellen Brennöfen gebrannt. Ergebnis ist eine
Neuerfindung der Tradition, singuläre Elemente
werden geschaffen, in welchen scheinbar ätherische
Designs organisch gewachsen sind. Nickel geht dabei
sogar noch weiter, indem er Anleihen bei Entwürfen
aus Kirchen nimmt und Muster als „Ways of
Contemplation“ und „Paradise is Everywhere“
einbettet, so als ob eine Verschmelzung nicht allein auf
dem Glas stattfände, sondern auch zwischen den
Glasarbeiten und ihrem architektonischen Kontext. Als
Fragmente und Schichtungen mangelt es diesen
Motiven am Gewicht und der Dauerhaftigkeit, die man
von diesen ältesten institutionellen Strukturen
erwartet. Sie sind verbrannt und verblichen, sie sind
fragil, sie sind Ruinen. Eine Kirche müsste wohl viel
Mut und Ehrlichkeit aufbringen, solche Fenster an ihre
Wände zu hängen.